Was ist Geschichtsbewusstsein?

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Erstellt von Rottler, Wenzel, Lehn und Schumm

"Geschichtsbewusstsein – in welcher Form auch immer – ist eine Eigentümlichkeit und ein Wesensmerkmals des Menschen."[1]

Geschichtsbewusstsein

Ziel des Geschichtsunterrichts ist die Anbahnung des Geschichtsbewusstseins. Dieses meint die Verknüpfung von der Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsanalyse und Zukunftserwartung. [2] PANDEL bezeichnet es als individuelle Struktur, das jedoch kulturell konstruiert wird. Folglich fordert er in der Geschichtsdidaktik, eine Integration der Geschichtskultur - alle Präsentationen und Verarbeitungen von Geschichte, die uns umgeben - im Geschichtsunterricht und spricht sich stark gegen die vermehrt auftretende Lehrplanaffirmation aus.[3] Geschichtskultur prägt folglich unsere historischen Kenntnisse, Vorstellungen und Urteile – unser Geschichtsbewusstsein.[4]

Allgemeine Definition

Geschichtsbewusstsein ist…

"das Bewußtsein von der geschichtlichen Bedingtheit menschlicher Existenz"[5]

"die ständige Gegenwärtigkeit des Wissens, daß der Mensch und alle von ihm geschaffenen Einrichtungen und Formen seines Zusammenlebens in der Zeit existieren, also eine Herkunft und eine Zukunft haben, daß sie nichts darstellen, was stabil, unveränderlich und ohne Voraussetzungen ist"[6]

"der Inbegriff der mentalen Operationen (emotionalen und kognitiven, unbewußten und bewußten) Operationen, durch die die Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerung zur Orientierungen der Lebenspraxis verarbeitet werden."[7]

"der Balanceakt des Menschen auf dem Drahtseil der Zeit, das zwischen dem „Nicht mehr“ und dem „Noch nicht“ ausgespannt ist und auf dem sich konkretes und reales menschliches Leben vollzieht."[8]

"Mehr als bloßes Wissen oder reines Interesse an der Geschichte umgreift Geschichtsbewußtsein den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive"[9]

"Wissen um die Geschichtlichkeit"[10]

Ziel des Geschichtsunterrichts

Durch das Geschichtsbewusstsein wird der didaktische Horizont erweitert, woraus sich geschichtsdidaktische Folgerungen ableiten lassen. Ziel ist es, das Geschichtsbewusstsein anzubahnen, das durch die Vergangenheit einer Gesellschaft konzipiert wird. Das "Wissen" über die Vergangenheit bietet einen Orientierungsrahmen für das gegenwärtige Verständnis. Die Geschichtsdidaktik ist ein theoretisch und empirisch ausreichend, gestaltendes Konzept. Der einzige Nachteil ist, dass die "Verlängerung" in die Praxis sowie die Rückkoppellung der Praxis an das Ziel fehlt.[11]

Empirische Betrachtung des Geschichtsbewusstseins

Geschichtsbewusstsein als Forschungsfeld und fundamentale Kategorie der Geschichtsdidaktik

Das Geschichtsbewusstsein entwickelte sich Mitte der siebziger Jahre zum zentralen Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik. Die Erforschung des Geschichtsbewusstseins soll in der Schule und in der gesamten Gesellschaft zentrale Aufgabe der Geschichtsdidaktik sein denn, so lautet die Begründung, jede Vermittlung und Rezeption ist vom Bewusstsein des Menschen abhängig.

Der Grundkonsens, dass das Geschichtsbewusstsein als eine, wenn nicht als die zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik gesehen werden kann wird auch von der Mehrheit der Geschichtsdidaktiker geteilt.[12] Das Geschichtsbewusstsein leitet quasi die wissenschaftliche Betrachtung der Geschichtsdidaktik, die über das reine Schulfach "Geschichte" hinausgeht ein und wird zu deren fundamentalen Begriff. Die folgende Definition von Jeismann trifft den Zusammenhang zwischen Geschichtsdidaktik und deren zentralem Forschungsfeld dem Geschichtsbewusstsein sehr gut:

"'Didaktik der Geschichte' hat es zu tun mit dem Geschichtsbewußtsein in der Gesellschaft sowohl in seiner Zuständlichkeit, den vorhandenen Inhalten und Denkfiguren, wie in seinem Wandel, dem ständigen Um- und Aufbau historischer Vorstellungen, der stets sich erneuernden und verändernden Rekonstruktion des Wissens von der Vergangenheit. Sie interessiert sich für dieses Geschichtsbewußtsein auf allen Ebenen und in allen Gruppen der Gesellschaft sowohl um seiner selbst willen wie unter der Frage, welche Bedeutung dieses Geschichtsbewußtsein für das Selbstverständnis der Gegenwart gewinnt; sie sucht Wege, dieses Geschichtsbewußtsein auf eine Weise zu bilden oder zu beeinflussem, die zugleich dem Anspruch auf adäquate und der Forderung nach Richtigkeit entsprechende Vergangenheitserkenntnis wie auf Vernunft des Selbstverständnisses der Gegenwart entspricht."[13]

In dieser Definition finden sich zwei Aussagen über die Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin wieder:

Die Ausweitung des Bezugrahmens der Geschichtsdidaktik

Zum einen erschließt sich aus der Definition, dass der Gegenstandsbereich der Geschichtsdidaktik über das Schulfach „Geschichte“ hinausgeht indem der Bezugsrahmen ausgeweitet wird. So fragt sie nach dem "Geschichtsbewußtsein auf allen Ebenen und in allen Gruppen der Gesellschaft" d.h. nicht nur die schulische Auseinandersetzung, sondern auch der gesellschaftliche Umgang mit "Geschichte" sowie dem, in der Gesellschaft vorfindbarem, Geschichtsbewusstsein sind hier von Interesse.[14]

Die Betonung der empirischen Komponente

Wenn sich die Geschichtsdidaktik für das Geschichtsbewusstsein "um seiner selbst willen interessiert", wird deutlich dass, sie sich empirisch mit dem Forschungsfeld des Geschichtsbewusstseins befassen will, ohne zugleich irgendwelche pragmatische Absichten zu haben.[15]

Darüber hinaus werden zwei weitere Aspekte ersichtlich:

"Bekenntnis zum Konstruktivismus"

Wenn die Rede von "Geschichtsbewußtsein", von "Denkfiguren" oder von "der stets sich erneuernden und verändernden Rekonstruktion des Wissens von der Vergangenheit" ist dann wird klar: Geschichte ist keine naturhaft verfügbare oder objektiv gegebene Größe, sondern mehr ein retrospektives Konstrukt, welches von jeder Gegenwart und von jedem selbst neu erarbeitet und angeeignet wird.[16]

"Wendung ins Heuristische"

Aus der "Wendung ins Heuristische" kann gefolgert werden, dass die Geschichtsdidaktik ergebnisoffen und zugleich ohne normative Fixierung arbeitet.[17]

Was aber Geschichtsbewusstsein genau sein soll wurde bisher nicht bestimmt. Es hat sich lediglich der Ansatz der Entstehung, welcher davon ausgeht das Geschichtsbewusstsein als individuelles Konstrukt durch Internalisierung entsteht, herauskristallisiert.[18]

So ist das Geschichtsbewusstsein wesentlicher Teil des individuellen Vermögens zur historischen Sinnbildung, dass die drei zentralen Felder der "Vergangenheitsdeutung, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung"[19] umgreift und zur Orientierung des Einzelnen in der Gegenwart dient. An diesem Punkt folgt auch die Abgrenzung zur Geschichtskultur, die als kollektives Konstrukt das Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft zum Ausdruck bringt.[20] Im Bereich der Geschichtskultur geht es folglich um den öffentlichen Umgang mit Geschichte innerhalb einer Gesellschaft.

Die Geschichtsdidaktik befasst sich in theoretischer, empirischer und pragmatischer Hinsicht mit der Erforschung des Geschichtsbewusstseins auf individueller Ebene, sowie auch auf der Ebene der Gesellschaft.

Während es an Defintitionen mangelt was das Geschichtsbewusstsein eigentlich ist wurde bereits von verschiedenen Autoren formuliert wie es zustande kommt. Einig ist man sich darin, dass das Geschichtsbewusstsein die Rekonstruktion der Vergangenheit aus gegenwärtiger Perspektive darstellt.[21]

Neben dem aufgeführten Grundkonsens gibt es verschiedene Theorievarianten die sich aus dem strukturanalytischen, funktionstypologischen und dem genetischen Ansatz zusammensetzen.

Die Theorie des Geschichtsbewusstseins

Die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins im geteilten Deutschland

Dieser Abschnitt behandelt die Anfänge des Geschichtsbewusstseins in der historisch-didaktischen Diskussion, wobei hier die Entwicklung in der DDR und in der BRD getrennt voneinander betrachtet wird.

Geschichtsbewusstsein in der DDR

In der DDR beschäftigte man sich früher mit dem Themenkomplex rund um das Geschichtsbewusstsein als in der BRD. Erstmals sprach Walter Schmidt 1967 in einer Zeitschrift für Geschichtswissenschaft in einem Aufsatz mit dem Titel "Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewußtsein" auf das Geschichtsbewusstsein an.[22]

Schmidt geht von unterschiedlichen Graden des Geschichtsbewusstseins aus, kommt aber zum Schluss dass ein "richtiges Geschichtsbild" grundlegend "für ein wirklich ausgeprägtes, die historische Wirklichkeit adäquat wiederspiegelndes Geschichtsbewußtsein"[23] ist.

Das Geschichtsbild fungiert hierbei als primäres Bezugssystem und ein "richtiges" Geschichtsbewusstsein kann nur dann entstehen wenn es sich dem normativ festgelegten Geschichtsbild annähert.

Dass die Geschichtsbewusstseinsdiskussion nicht der Geschichtswissenschaft entsprang, sondern politisch initiiert wurde zeigt folgendes Zitat von Meier: "Erste Voraussetzung für die Befähigung zur Auseinandersetzung mit der imperialistischen und revisionistischen Geschichtsideologie ist die Erlangung sozialistischen Geschichtsbewußtseins, das heißt die Aneignung, Verarbeitung und Verinnerlichung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes."[24] Darüber hinaus weist der Begriff des Geschichtsbewusstseins gerade durch den verbindlichen Bezug auf das marxistisch-leninistische Weltbild eine starke normative Prägung auf. Auch die ideologiekritische Funktion bezog sich nur auf die Geschichtsideologie des damaligen imperialistischen Gegners.[25]

Geschichtsbewusstsein in der Bundesrepublik

In der BRD setzte die Diskussion rund um das Geschichtsbewusstsein rund fünf Jahre später ein als in der DDR und auch der Hintergrund war ein anderer.

Im Falle der BRD ging es um die Selbstbehauptung der Geschichtswissenschaft. So wurde die Funktion der Geschichte im Bereich der Schule, der Gesellschaft und in der Wissenschaft in Frage gestellt.[26]

Als Belege gelten dafür auch Buchtitel wie "Geschichtsunterricht ohne Zukunft?"[27] oder "Wozu noch Geschichte?"[28].

Der Begriff des "Geschichtsbewusstseins" entsprang eben in jenem Zusammenhang und versuchte das weitere Bestehen des Gesamtfaches Geschichte rechtzufertigen. Dies zeigt auch eine Stellungnahme "zur Lage der Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" vom Verband der Historiker Deutschlands (VHD) in Zusammenarbeit mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschland (VGD) in der es heißt: "Daß geschichtliches Bewußtsein, […] in einer Welt gegenwärtig bleibt, die durch geschichtlichen Wandel größten Ausmaßes gekennzeichnet ist und deren Menschenwürdigkeit eben im geschichtlichen Bewußtsein der Menschen eine ihrer Bedingungen hat – das ist eine Aufgabe von GW und GU, aber auch der für Bildung und Kultur zuständigen Behörden, der Verlage, Museen und Massenmedien. Sie alle tragen Verantwortung für die geschichtl. Bildung […]. Im Bewußtsein solcher Verantwortung wird diese Stellungnahme an die Öffentlichkeit gegeben."[29]

Anfänglich war das Geschichtsbewusstsein lediglich ein Argument fachlicher Selbstbehauptung und hatte keinen vorrangigen Bezug zur Didaktik. Den Bezug zur Didaktik stellte letztlich Jeismann, der auf dem Mannheimer Historikertag 1976 Geschichts-bewusstsein als bedeutend für die Geschichtsdidaktik erachtete, her.[30] Erst im Nachhinein entwickelte sich das Geschichtsbewusstsein zum Forschungsfeld und letztlich auch zur fundamentalen Kategorie der Geschichtsidaktik.

Theorievarianten

Die verschiedenen Theorievarianten setzen sich im Wesentlichen zusammen aus dem strukturanalytischen, funktionstypologischen und dem genetischen Ansatz.

Strukturanalytische Ansätze

In diesem Abschnitt konzentrieren wir uns auf die zwei strukturanalytischen Ansätze von Karl-Ernst Jeismann und Hans-Jürgen Pandel.

a) Strukturanalytischer Ansatz nach Jeismann:

Generell bezieht sich Jeismann auf ein Geschichtsbewusstsein, das den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive umfasst. Er beruft sich auf eine Definition von Schieder die besagt:

Belege

Fritz, G./ Sabine, B./ Grosch, W./ Sabine, H./ Meier, F./ Wittneben, E. L. et al.(2012): Geschichte und Fachdidaktik. Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH.

Jeismann, K.-E. (1977): Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Kosthorst. E.: Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung - Theorie (S. S. 9-33). Göttingen.

Jeismann, K.-E. (1997): Geschichtsbewusstsein - Theorie. In: Bergmann, K./ Fröhlich, K./ Kuhn, A./ Rüsen, J./Schneider, G.: Handbuch der Geschichtsdidaktik; 5. überarbeitete Auflage (S. 42-45). Kallmeyer.

Meier, H. (1970): Geschichtsbewußtsein und sozialistische Gesellschaft - Beiträge zur Rolle der Geschichts-wissenschaft, des Geschichtsunterrichts und der Geschichtspropaganda bei der Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins. Berlin: Dietz Verlag.

Meyer (1974): Enzyklopädisches Lexikon 10. Mannheim: Bibliographisches Institut.

Oelmüller, W. (1977): Wozu noch Geschichte? München: Fink.

Pandel, Hans-Jürgen (2013): Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Richling, Marian/ Jung, Roberto (2011): Abteilung für Didaktik der Geschichte. Didaktik der Geschichte. http://www.geschichte.uni-halle.de/struktur/dg/ (letzter Zugriff: 10.07.2013)

Rüsen, J. (2008): Historische Orientierung: Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins sich in der Zeit zu-rechtzufinden. Schwalbach: Wochenschau-Verlag.

Sauer, Michael (2001): Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 1. Auflage.

Schieder, T. (1974): Geschichtsinteresse und Geschichtsbewusstsein heute. In: Burckhardt, C. J. Burckhardt: Geschichte zwischen Gestern und Morgen (S. 73-102). München.

Schmidt, W. (1967): Geschichtswissenschaft und Geschichtsbewusstsein. ZfG , S. 205-223.

Schönemann, B. (2012): Geschichtsbewusstsein - Theorie . In: Barricelli, M.: Handbuch Praxis des Ge-schichtsunterrichts; 1 (S. 98-109). Schwalbach/Ts: Wochenschau-Verlag.

Süssmuth, H. (1972): Geschichtsunterricht ohne Zukunft? Klett.

Verband der Historiker Deutschlands. (1972): Zur Lage der Geschichte in Wissenschaft und Unterricht.

Von Borries, B. (1988): Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie. Stuttgart.

  1. Sauer 2001, 9
  2. vgl. Richling/Jung 2011
  3. vgl. Pandel 2013
  4. vgl. Sauer 2001, 9
  5. Meyer 1974, 191
  6. Schieder 1974, 78f.
  7. Rüsen 2008, 13
  8. Rüsen 2008, 14
  9. Jeismann 1997, 42
  10. Jeismann 1997, 42
  11. vgl. Pandel 2005, 8
  12. vgl. Schönemann 2012, 102
  13. Jeismann 1977, 12
  14. vgl. Schönemann 2012, 102
  15. vgl. Schönemann 2012 , 102
  16. vgl. Schönemann 2012, 102
  17. vgl. Schönemann 2012, 102
  18. vgl. Fritz et al. 2012, 35
  19. Jeismann 1997, 42
  20. vgl. Fritz et al. 2012, 35
  21. vgl. Fritz et al. 2012, 35
  22. Schmidt 1967
  23. Schmidt 1967, 213
  24. Meier 1970, 60
  25. vgl. Schönemann 2012, 99f.
  26. vgl. Schönemann 2012, 100
  27. Süssmuth 1972
  28. Oelmüller, 1977
  29. Verband der Historiker Deutschlands 1972, 1f, 13
  30. vgl. Schönemann 2012 , 101