Ziele und Absichten der Geschichtsdidaktik: Unterschied zwischen den Versionen

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-Multiperspektivität, Perspektivwechsel und Fremderfahrung müssen Teil des Geschichtsunterrichts werden
-Multiperspektivität, Perspektivwechsel und Fremderfahrung müssen Teil des Geschichtsunterrichts werden


<referenzes />
<references />
 
==Literatur==
*Calließ, Jörg (1997): Geschichte als Argument. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;
Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung,(S.72ff)
 
*Schneider, Gerhard (1997): Geschichtsbild. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik
Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.290ff)
 
*Bergmann, Klaus (1997): Identitätsbildung. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik ;
Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.23ff)
 
*Rüsen, Jörn (1997): Objektivität. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;
Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.160ff)
 
*Rüsen, Jörn (1997):Werturteile im Geschichtsunterricht. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;
Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.304ff)
 
*Schmid, Hans-Dieter (1997): Vorurteile und Feinbilder. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;
Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.308ff)

Version vom 18. Oktober 2013, 14:17 Uhr

Autor: Tobias Böhnstedt

Geschichte als Argument (Jörg Calließ)

Geschichte als Argument wird bei vielen Anlässen verwendet, wie zum Beispiel am Stammtisch, im Wahlkampf, bei politischen Analysen oder Kommentaren zu aktuellen Themen. Dabei sind immer Motive im Hintergrund, die berücksichtigt werden müssen.

„Von Bedeutung kann freilich auch das Bemühen sein, die eigene Argumentation auf einer Ebene zu entwickeln, die den aktuellen Beweis- und Legitimationsmittel enthoben sind. Eindeutig dürfte in den meisten Fällen der politische Impetus sein. Er zielt entweder auf die Wiederherstellung früherer Verhältnisse oder auf die Abweichung jedweden Wunsches nach Veränderung oder auf die Umformung oder Neugestaltung sozialer oder wirtschaftlicher Realitäten.“ [1]


Daraus folgt, dass ein Geschichtsunterricht sich immer am gegenwärtigen und zukünftigen Handeln orientieren sollte, der dann als Grundlage für eine Begründung der eigenen oder gesellschaftlichen Handlungen dienen sollte. Außerdem sollte an aktuellen Themen und Diskussionen in der Gesellschaft aufgezeigt werden, in wie fern Geschichte instrumentalisiert wird, um eigene Argumente oder Positionen zu untermauern oder zu belegen. Oft wird dabei das Geschichtsbild verzerrt, da nur einzelne Aspekte aus dem Gesamtzusammenhang entrissen werden, um Einzelstandpunkte vermeintlich zu belegen.

Es gibt vier Hauptrichtungen, wie Geschichte als Argument genutzt werden kann

  1. die Einführung historischer Beispiele (Argumentum ab exemplo)
  2. die Konstruktion von Analogien (Argumentum ab analogia)
  3. die Darstellung von Trend und Entwicklungen, die zur Genese aktueller Wirklichkeit gehören (Argumentum a progressione)
  4. die Inanspruchnahme von „Wirkungs-“ und „Sinnzusammenhängen“, die Geschichte als Prozess konstituieren (Argumentum s processu)

[2]


Geschichte als Argument hat in letzter Konsequenz immer den Auftrag Menschen in ihrer Sichtweise auf geschichtliche Ereignisse zu beeinflussen. Durch die Beeinflussung verändern sich natürlich auch die Geschichtsbilder der einzelnen Menschen oder der Gesellschaft im Ganzen.


Geschichtsbild (Gerhard Schneider)

Das Geschichtsbild ist eine subjektive Auseinandersetzung mit den Geschichte schreibenden Kräften, Ereignissen und Gestalten, die durch wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse Faktoren beeinflusst werden und somit einen Sinn stiften. [3]


Eine Orientierung in der Gegenwart wird durch das Geschichtsbild geprägt und ermöglicht eventuelle Voraussagen über die Zukunft, die anhand von Analogien oder Vergleichen entstehen.

Geschichtsbilder, seien es individuelle oder gesamtgesellschaftliche, sind einem ständigen Wandel unterzogen. So entstehen Feindbilder, die politisch, wirtschaftlich oder religiös geprägt sind, die aber auch wieder ihren Sinn für die Gesellschaft nach einiger Zeit verlieren. (Zum Beispiel der „Erbfeind Frankreich“)

Diese geschaffenen Feindbilder entsprechen meist nicht den Tatsachen, werden aber oft politisch benutzt, um die Ziele einer Gruppe zu erreichen, bzw. das Selbstbild der Gruppe zu festigen. Gesellschaftliche Gruppen (Kirchen, Parteien, Staat, Armeen, Organisationen/Verbände...) nehmen Einfluss auf die individuellen Geschichtsbilder, um ein, nach ihren Zwecken nutzbares, kollektive Geschichtsbild zu erschaffen. Oft wird dadurch ein Herrschaftsanspruch oder die Herrschaft selbst versucht zu legitimieren.

Verschiedene, sich widersprechende Geschichtsbilder können zeitgleich auftreten, wie zum Beispiel Christlich-Abendländisch, marxistisch-leninistisch, rassisch-biologisch, heroisches... .

Der Geschichtsunterricht hatte früher mehr Einfluss auf das Geschichtsbild, da:

  • kein Zugang zu öffentlichen Medien
  • keine Multiperspektivität
  • es ein in der Gesellschaft vorgegebenes Geschichtsbild gab, das gegenüber anderen überlegen war
  • kein politischer Pluralismus
  • vorgegebenes Geschichtsbild im Geschichtsunterricht (Lehrpläne)

Seit den 1990er Jahren wurde wieder die Forderung laut ein einheitliches Geschichtsbild im Geschichtsunterricht zu verankern, dies wurde jedoch von der Politik verhindert, da ein neues Geschichtsbild wieder eine Ideologie mit sich bringen könnte. Es wird mehr Wert gelegt auf

  • die Ausbildung eines Problembewusstseins
  • Kritikfähigkeit
  • Multiperspektivität

Gerade durch Schaffung eines Problembewusstseins, Kritikfähigkeit und Multiperspektivität werden Menschen zu verantwortungsvollen Bürgerinnen und Bürgern erzogen, die nicht Gefahr laufen sich einer Ideologie anzuschließen und/oder radikal zu werden. Ihre Identität wird so geprägt, dass sie die Menschenwürde und die Diversität jedes Menschen achten lernen.


Identitätsbildung (Klaus Bergmann)

Die Ich-Identität ist definiert als ein konstantes Verhalten, eigentümlicher Eigenschaften und sich selbst in diesen Eigenschaften treu zu bleiben. Die Gruppenidentität wird als Grundlage der Ich-Identität gesehen, da sie eine Abgrenzung der Eigentümlichkeiten des Ichs gegenüber anderen bietet. Die Selbstidentifikation oder auch Selbstvergewisserung in der Gruppe rührt aus einem historischen Selbstverständnis der Gruppe. Eine Gruppe und deren Mitglieder verbindet immer eine (gemeinsame) Geschichte, die dazu führt, sich verbunden zu fühlen und sich so von anderen abzugrenzen- ein „Wir-Gefühl“ wird geschaffen. Die Ich-Identität setzt sich aus zwei Komponenten zusammen- der sozialen und der personalen Identität. Die Personale Identität besteht aus der eigenen Biographie und der Kontinuität des Individuum, was heißt, dass in verschiedenen Situationen die Person mit ihrem Verhalten mit sich identisch ist, was eine Verhaltensänderung nicht ausschließt, da das Individuum sich nur mit der neuen Handlungsweise identifizieren können muss. Die soziale Identität setzt sich aus Sympathie, Loyalität und Solidarität zu einer Gruppe zusammen. Das Individuum behält seine Identität, wenn es die verschiedenen Rollen der Gruppen (oft gegensätzlicher Natur) in sich vereinen kann und die Balance findet zwischen „zu sein wie jeder andere und zu sein wie kein anderer“ [4]


In der Erziehung können Fehler passieren, die gravierende Auswirkungen auf das Individuum haben. So kann der Typ der autoritätsfixierten und manipulativen Persönlichkeit entstehen, durch Vernachlässigung der personalen zu Gunsten der sozialen Identität. Es kann aber auch zu einem Interaktionsverlust des Individuums kommen, wenn die soziale zu Gunsten der personalen Identität leidet.

Ziel der Erziehung ist folglich, dass eine Balance zwischen den beiden Extremen gefunden wird, der die Interaktionsfähigkeit stärkt, einen Rollenabstand schafft, sowie Empathie, eine Ambiguitätstoleranz und eine Identitätsdarstellung zulässt.

Der Aufbau einer Ich-Identität bzw. die Ich-Bildung erfolgt durch Identifikationsprozesse. „Symbolische Interaktion übernimmt Individuum als handelndes und rezipierendes Subjekt Züge, Eigenschaften, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, Deutungsmuster der Interaktionspartner und Interaktionsobjekte- Integration durch den Mechanismus des Rollenlernens“ [5]


Die Identifikationsprozesse von Personen oder Gruppen sind immer mit dem historischen Hintergrund verknüpft, den die Person oder Gruppe, mit der man sich identifizieren will, verbunden. So ist die Gesellschaft ein Konstrukt aus historischen Begebenheiten, die bereits interpretiert wurden und somit die in ihr lebenden Individuen beeinflusst, wie auch umgekehrt.

Das Ziel des Geschichtsunterrichts muss folglich sein, dass die SuS eine bewusste, kritische und reflektierte Identitätsbildung durchlaufen zu lassen, die historischen Ich-Identitäten sollen durch den Geschichtsunterricht erweitert, reflektiert und in Frage gestellt werden.

Identitäten bilden sich in und durch Interaktionen. Der Geschichtsunterricht führt eine doppelte Interaktion an, da eine Interaktion mit Primärerzeugnissen stattfindet (mit Quellen) und außerdem eine Interaktion mit dem Lehrer und den anderen SuS, die Kritik und Meinungen austauschen. Folglich ist der Geschichtsunterricht immer auch ein multiperspektivischer, da Interaktion und soziales Handeln immer erforderlich sind. In einem solchen Geschichtsunterricht werden zum Beispiel ständig folgende Operationen geübt:

  • -“Motive, Normen und Grundsätze von gesellschaftlichen Handeln kennenlernen und Handlungsfolgen abschätzen lernen;
  • -Die Perspektivität von Erwartungen, Gedanken, Gefühlen anderer Personen oder Gruppen analysieren lernen;
  • -die Wechselnde Reflexivität von Erwartungen in Interaktion abtasten lernen;
  • -die Bündelung von Verhaltenserwartungen in Gruppen und Gesellschaft analysieren lernen“ [6]


Da Handlungen immer im Zusammenhang mit einzelnen Personen oder Gruppen stehen, die eine ganz spezifische Sicht auf die Welt haben, muss auch die Frage gestellt werden, was denn nun richtig ist. Diese Frage kann leider nicht beantwortet werden, aber die Geschichtswissenschaft versucht die verschiedenen Motive und Perspektiven aufzuschlüsseln, um einen Überblick zu schaffen, den man als „objektiv“ oder auch nicht bezeichnen kann.


Objektivität (Jörn Rüsen)

Die Geschichte als Wissenschaft erhebt den Anspruch der Objektivität, kann aber den Vorwurf, sie sei subjektiv nicht leugnen, da Historiker immer ihre eigenen Ansichten und Standpunkte miteinbringen. Die Standpunkte werden zur Parteilichkeit, wenn sie Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen versuchen. Die Objektivität wird in der Geschichtswissenschaft folgender-weise begründet

-Objektivität wird durch methodisches Vorgehen erreicht, da der Weg nachvollziehbar gemacht wird (intersubjektiv) oder -Die Geltung der historischen Erkenntnis ist von der begründeten Wahl des Standpunktes her zu sehen (z.B. im Historismus)

„Die durch die Geschichte als Wissenschaft eröffnete Objektivitätschancen des historischen Denkens bestehen darin, dass die Orientierung handelnder und leidender Menschen in der Zeit durch Geschichten erfolgt, die immer anders erzählt werden müssen- im Sinne einer Steigerung ihres Erfahrungs-, Bedeutungs- und Sinngehaltes. Durch Geschichte, die diesem objektivitätsbildenden Diskurs verpflichtet sind, erfahren ihre Adressaten nicht nur, wer sie sind, sondern werden auch fähig, sich in ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig anzuerkennen“

Da folglich keine reine Objektivität gewährleistet werden kann, gibt es ebenfalls keine Zeit- und Kontextungebundenen Werte und Normen, welche die Kinder lernen könnten. Um dennoch Werturteile im Unterricht fällen zu können, benötigt der Unterricht bestimmte Vorgehensweisen.

Werturteile im Geschichtsunterricht

Alles historische Wissen ist wertend. Für den Geschichtsunterricht hat das drei Folgen: eine empirische, normative, pragmatische Folge

  • Empirische Folge:

Alle wertenden Aussagen der Geschichte, die Einfluss auf die Gegenwart und Zukunft haben sollten im Geschichtsunterricht behandelt werde

  • Normative Folge:

Der Lehrer soll die SuS zu wertenden Urteilen über Geschichte befähigen

  • Pragmatische Folge:

Der Geschichtsunterricht soll ein Lernprozess sein, der Form und Inhalt wertender Urteile der Geschichte aufzeigt/behandelt

Die dreifache Rolle von Werturteilen/normativen Aussagen hat einen großen Einfluss auf die Geschichtsdidaktik, da die Legitimationsfunktionen der Geschichte im Diskurs sowie die Subjektivität (Einstellungen, Werte, Interessen,… ) der SuS/Lehrer mit berücksichtigt werden müssen.

Die Legitimation des Staates und der Geltungsanspruch des Individuums sind im historischen Werturteil verschiedene Aspekte, da unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Die historische Identität der Gesellschaft und des Individuums, die im Geschichtsbewusstsein entsteht, ist eine andere.

Werturteile sind im Verlauf der Sozialisation/ der Individuation dafür verantwortlich, wem wir uns sozial zugehörig fühlen und vom wem wir uns, bewusst oder unbewusst, abgrenzen. So haben Menschen mit verschiedenen Vergangenheiten eine andere Sicht auf Geschichte, da sie unterschiedlich geprägt wurden und somit Fakten unterschiedlich interpretieren und somit werten. Ebenfalls sind die Schlussfolgerungen die sie daraus ziehen andere, die dadurch auch ein anderes Gegenwarts- und Zukunftsbild entwerfen.

Der Geschichtsunterricht behandelt dem zu Folge auch immer die Subjektivität des Lehrers und der SuS mit. Der didaktische Knackpunkt ist somit der Subjektivitätseinschlag, da er zu Konflikten führt, wenn die politische Legitimation und der Selbstverwirklichungsanspruch der Individuen gegenübergestellt werden. Folglich prallen Werte und Vorstellungen aufeinander, die im Unterricht behandelt werden müssen.

Der Geschichtsunterricht unternimmt den Versuch den Werturteilen zu entgehen, in dem er sich auf wissenschaftlich gesichertes, historisches Wissen beschränken versucht. Des Weiteren soll der Geschichtsunterricht Verfahren der wissenschaftlichen Objektivitätssicherung lehren. Die Folge daraus ist, dass subjektive Interessen und das Orientierungsbedürfnis der SuS/des Lehrers scheinbar ausgeschlossen werden und somit geht dem Geschichtsunterricht eine große Motivationshilfe für die SuS verloren.

In der Geschichtsdidaktik ist anerkannt, dass die SuS zu wertenden Urteilen befähigt werden sollen, die Frage nach der Art der Urteilsbildung und wie Werturteile angesprochen werden sollen, bleibt offen. Ebenfalls ist strittig, auf welcher gemeinsamen Grundlage die Wertungen basieren sollen.

Rationalisierung des historischen Wertens

Laut Jeissmann (1987) muss eine Grundunterscheidung der historischen Sinnbildung vorausgesetzt werden. Er unterscheidet zwischen der (1) Analyse, dem (2) Sachurteil und der (3)Wertung. Rüsen (1994, 64ff) erweitert diese Aspekte durch (1) Erfahrung und Wahrnehmung, (2) Deutung und Interpretation sowie (3) Praxisorientierung und Identitätsbildung

Dem zu Folge sollen die SuS diese Operationen erlernen sowie diese wechselseitig aufeinander beziehen können. Das Resultat ist dann eine qualitative Umstrukturierung des Geschichtsbewusstseins, das heißt das Erkennen von apologetischen und legitimatorischen Strukturen und Sachverhalten in ihrer Lebenswelt, im kurzen- Sinn und Inhalt von gesellschaftlichen Strukturen erkennen.

Das Ziel des Unterrichts ist dann, dass SuS normative Dimensionen von empirischen unterscheiden können, was zur Folge hat, dass sie kritisch-diskursiv und ideologiekritisch denken und handeln können.

Wenn Wertungen im Geschichtsunterricht als Wertungen thematisiert werden, dann wird die Abhängigkeit der historischen Urteile von verschiedenen Standpunkten sichtbar. Somit wird eine Standpunktreflexion anhand von Analyse, Sachurteil und Wertung möglich. Die SuS lernen argumentative Intersubjektivität im Verhältnis zu den anderen Menschen, mit denen sie in Kontakt sind. Eine Vertiefung der eigenen historischen Identität wird durch diese Intersubjektivität ermöglicht, da sie eine Perspektivenerweiterung voraussetzt, welche die Sichtweise der SuS beeinflusst.

Formen und Entwicklungsstufen historischer Wertungen

Das Geschichtsbewusstsein ergibt sich aus der Lebenspraxis, der Verbindung aus Tradition, Erfahrungs- und Normbezug. Jeder Lernprozess muss an dieses Grundgerüst Anschluss nehmen um erfolgreich zu sein. Daraus folgt ein Erfahrungszuwachs, der zu einer Weiterentwicklung einer moralischen Regelkompetenz führt und letztlich zu exemplarischer Regelbildung über historische Erfahrung.

„Mit zunehmendem Erfahrungs-gehalt und mit der Entwicklung moralischer Regelkompetenzen organisiert sich die historische Wertung dann zur exemplarischen Regelbildung über historische Erfahrung um: Historische Sachverhalte konkretisieren abstrakte normative Handlungsregeln (zum Beispiel allgemeine Legitimationskriterien für politische Herrschaft). Auf diesem Niveau historischer Wertung schult das historische Lernen die praktische Urteilskraft: Allgemeine und abstrakte Normen werden auf konkrete, zeitlich differenzierende Fälle bezogen, und aus konkreter historischer Erfahrung werden allgemeine Verhaltensregeln generiert. [7]


Die dritte Stufe des Geschichtsbewusstseins ergibt sich, wenn eigene Entwicklung, sei es bewusst oder unbewusst) mit Regelwerken und Traditionen in Konflikt geraten. Diese Konflikte entstehen, wenn Fremdzuschreibungen nicht mehr akzeptiert werden und die Selbstbehauptung des Individuums zunimmt.

„Die letzte und höchste Stufe historischer Gesichtspunkte ist dann erreicht, wenn die historische Relativität der normativen Gesichtspunkte des historischen Denkens eingesehen wird, wenn also die historische Wertung im Bewusstsein einer zeitlich-geschichtlichen Dynamik der beanspruchten Normen vollzogen wird. Die historische Erfahrung wird dann auch da bedeutsam, wo sie die geschichtliche Bedingtheit und die Veränderung von Wertesystemen lehrt“ [8]


Didaktische und methodische Strukturierung des historischen Lernens

Sie SuS sollen befähigt werden historische Urteile bilden zu können. Deshalb ist es wichtig, dass sie bei ihrem individuellen historischen Kompetenzniveau abgeholt werden, um daran anzuknüpfen.

„Zugleich sollte die Objektivität des historischen Denkens durch seinen Erfahrungsbezug und seine Subjektivität durch seinen Bezug auf die Orientierungsbedürfnisse der Lernenden jeweils gezielt so angesprochen oder gefördert werden, dass sich den Lernenden neue Formen und Stufen der historischen Wertung erschließen“ [9]


Empirisch gesichertes historisches Wissen und die Methoden der Geschichtswissenschaft sollen gleichzeitig vermittelt werden, da somit die Eingliederung in das Geschichtsbewusstsein ermöglicht und das selbe gefestigt sowie erweitert wird. Dies führt zu Bildung der individuellen historischen Identität, die hilft sich in der eigenen Lebenswelt besser orientieren zu können.

Der Doppelaspekt (Fakten und Methoden gleichzeitig zu vermitteln) des Kompetenzerwerbs zur Urteilsbildung ist die Multiperspektivität von enormer Wichtigkeit. SuS erweitern ihre historischen Erfahrungen durch eine große Quellenauswahl. Somit wird ein breites Spektrum von Sichtweisen zum gleichen Thema eingebracht, welche die SuS in ihr subjektives Geschichtsbewusstsein aufnehmen können. Zeitgleich wird damit verhindert, dass die SuS sich nur auf eine Sichtweise auf ein historisches Thema einlassen und somit Gefahr laufen würden, ähnliche Themen immer nur aus einem bestimmten Blickwinkel her zu betrachten. Darüber hinaus werden die SuS die Hintergründe viel leichter in Erfahrung bringen, da sie durch die verschiedenen Deutungen ein und des selben Themas, mehr darüber erfahren möchten. Dem zu Folge ist die Multiperspektivität ein Mittel zur Motivation der SuS.

Um Verunsicherungen durch Standpunktreflexion zu vermeiden, werden diese erst im Unterricht an Objekten geübt und damit der Dogmatismus werthafter Einstellungen in Frage gestellt und erst danach in komplexeren Zusammenhängen ins Spiel gebracht.

„Erst in einem zweiten und späteren Lernschritt kann dann die Multiperspektivität des historischen Wissens auf der Ebene der lernenden Subjekte zum methodischen Gesichtspunkt des historischen Lernens werden: Dann reflektieren die Lernenden die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen verschiedene Identifikationen mit Vergangenem und Bedeutungszumessung an Vergangenes erfolgen. Die Standpunktreflexion, die als methodische geregelte Erkenntnisoperation des historischen Denkens die historische Wertung rationalisiert, trägt dann, wenn sie so im Lernprozess platziert wird, nicht zur Verunsicherung der historischen Urteilsbildung bei, sondern vollzieht sich als Schritt zur Klärung und argumentativen Stärkung des eigenen historischen Urteils, wenn schon vorher bei der Betrachtung historischer Sachverhalte eine argumentative Kompetenz erworben wurde die verschiedene Standpunkte (auf Objektebene) umgreift und vermittelt“ [10]


Da Werturteile im Geschichtsunterricht in Frage gestellt werden, muss auch danach gefragt werden, ob bereits Vorurteile oder Feindbilder in den Köpfen der Kinder angelegt wurden. Um zu verstehen, wie diese zu Stande gekommen sind und wie sie unter Umständen sogar revidiert werden könnten, muss zu allen Anfangs die Systematik geklärt werden.

Vorurteile und Feindbilder

Der Begriff des Vorurteils ist umstritten. Die häufigste Definition die zur Rate gezogen wird ist von Davis, einem amerikanischen Psychologen:

„Vorurteile sind negative oder ablehnende Einstellungen einem Menschen oder einer Menschengruppe gegenüber, wobei diese Gruppe infolge stereotyper Vorstellungen bestimmte Eigenschaften von vorneherein zugeschrieben werden, die sich aufgrund von Starrheit und gefühlsmäßiger Ladung, selbst bei widersprechender Erfahrung, schwer korrigieren lassen.“ [11]


Die Definition des Feindbildes ist auch umstritten. Er lässt sich gegenüber dem Vorurteil dadurch abgrenzen, indem der Begriff meist auf außergesellschaftliche/ -nationale Gruppen angewendet wird. Ein Feindbild ist eine Sammlung von Vorurteilen und Stereotypen die zusammen ein Bild von Menschen entwerfen, die als Feind angesehen werden.

Die Vorurteilsforschung ist zu dem Schluss gelangt, dass Vorurteile erlernt werden. Dies beginnt bereits im frühkindlichen Stadium, wenn Kinder anfangen Kategorien zu bilden. Erweitert wird diese Kategorienbildung dann in der Schule, zwar nicht bewusst, sondern in von unbewussten Lernprozessen, was in der Pädagogik „heimlicher Lehrplan“ genannt wird.

Die Vorurteilsbildung findet in der Erziehung statt, doch diese versucht ebenfalls dem entgegenzuwirken. In der Pädagogik gibt es vier verschiedene Ansätze, wie in den Schulen gegen Vorurteil vorzugehen ist:

Information

Die Aufklärung über Vorurteile, wie sie entstehen und wen sie treffen. Ohne Zusammenarbeit mit anderen Ansätzen ist diese Methode nicht geeignet.

Appell

Es soll durch einen ethischen Appell eine emotionale Reaktion erreicht werden, welche die SuS davon abbringen soll Vorurteile zu haben. Diese Methode ist nur kurze Zeit wirksam

Kontakt

SuS kommen mit vorurteilsbelasteten Menschen zusammen um ihre Vorurteile abzubauen. Diese Methode ist nur dann von Erfolg geprägt, wenn sie die richtigen Rahmenbedingen und Durchführung erhält

Selbsterfahrung

Durch Rollenspiele und psychologische Experimente soll den Schülern gezeigt werden, dass sie selbst mit Vorurteilen behaftet und gleichzeitig auch Opfer sind. In der Vergangenheit war der Geschichtsunterricht für die Tradierung von Vorurteilen und Feinbildern maßgeblich verantwortlich. Bei den Veränderungen der Schulbücher wurde darauf Wert gelegt, sie von Vorurteilen frei zu machen, was nur an der Oberfläche gelang. So finden sich in den Büchern immer noch wertgebundene Informationen mit hohem Maß stereotyper Vereinfachungen. Erst in den 1980er Jahren wurden neue Prinzipien erstellt, welche die eben genannten verbessern oder ersetzen sollen.

-Es sollen nicht mehr einzelne Stereotypen widerlegt, sondern Strukturen in der Geschichte offengelegt werden, wie einzelne (Rand-)Gruppen die Opfer von Diskriminierung wurden

-Geschichtsunterricht sollte die SuS stärker als in anderen Bereichen bei ihrem Kenntnisstand abholen, das heißt, dass die bereits entstandenen Vorurteile aufgegriffen werden müssen, um einen Bezug zum Leben der SuS herzustellen

-Multiperspektivität, Perspektivwechsel und Fremderfahrung müssen Teil des Geschichtsunterrichts werden

  1. (Jörg Calließ, S.73)
  2. (Jörg Calließ, S.73)
  3. (Vgl. Gerhard Schneider, S.290)
  4. (Mollenhauer1972, 104)
  5. (Habermaß 1973b,1229)
  6. (Schörken 1975,29)
  7. (Rüsen, S.306)
  8. (Rüsen, S.306f)
  9. (Rüsen, S. 307)
  10. (Rüsen, S.307f)
  11. (Davis, 1964, 53)

Literatur

  • Calließ, Jörg (1997): Geschichte als Argument. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;

Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung,(S.72ff)

  • Schneider, Gerhard (1997): Geschichtsbild. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik

Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.290ff)

  • Bergmann, Klaus (1997): Identitätsbildung. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik ;

Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.23ff)

  • Rüsen, Jörn (1997): Objektivität. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;

Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.160ff)

  • Rüsen, Jörn (1997):Werturteile im Geschichtsunterricht. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;

Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.304ff)

  • Schmid, Hans-Dieter (1997): Vorurteile und Feinbilder. In Bergmann, Fröhlich, Kuhn, Rüsen, Schneider (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik;

Hannover: Kallmayer’sche Verlagsbuchhandlung, (S.308ff)